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Zur Situation in Russland
Nazimorde, Liquidierungen, rechter Konsens
In Russland vollzieht sich eine erschreckende Entwicklung. In den letzten Jahren ist ein stetiger Anstieg rechtsextremer Gewalttaten zu verzeichnen, deren Großteil rassistisch motiviert ist. Die Statistiken sprechen für sich, im gesamten Jahr 2007 starben 76 Menschen bei faschistischen Überfällen, 2006 waren es 62 Tote. Bis Oktober 2008 wurden bereits 80 Morde registriert, was einem Anstieg der Gewalt um 400 Prozent entspricht.

Sicher im Umgang mit Waffen
Auch in der Wahl der Waffen lassen Neonazis wenig Zweifel an ihrer Motivation. Bei den meisten Übergriffen werden Messer eingesetzt, die Täter sind im Umgang geübt. Militante Gruppierungen bieten zunehmend so genannte »Wehrsporttrainings« an, bei denen neben Kampftechniken auch der Umgang mit verschiedenen Waffenarten vermittelt wird. Auch der Organisationsgrad russischer Neonazis nimmt zu. Personelle Stärke und zunehmende Verankerung in der Politik wirken sich auf das Auftreten rechtsextremer Gewalttäter aus. Häufigste Opfer neonazistischer Attacken sind Menschen, welche aufgrund ihres Äußeren als »Nicht-Russen« definiert werden. Rassistische Gewalt trifft neben den prozentual größten in Russland lebenden ethnischen Minderheiten der Tadschiken, Armenier und Kirgisen ebenso zahlreiche Studierende aus asiatischen und afrikanischen Ländern.

Gezieltes Vorgehen
Im April 2006 wurde Vigen Abramyants, ein Moskauer Student armenischer Abstammung, von Neonazis angegriffen, während er an einer zentralen Metro-Station auf seinen Zug wartete. Noch am Gleis erlag der junge Mann seinen schweren Messerverletzungen in der Herzgegend. Hartnäckig hielt sich eine Erklärung der Miliz, wonach es sich bei dem Mord um einen eskalierten Streit »wegen eines Mädchens« gehandelt haben soll, auch die Tatsache, dass Zeugen die Angreifer rassistische Parolen schreien hörten, änderte nichts daran. Nur zufällig wurden die Täter schließlich gestellt, als drei Mitglieder derselben Neonazi-Gruppierung am 20. März 2006 bei einem Anschlag auf einem Moskauer Markt festgenommen wurden. Bei der Explosion wurden zehn Menschen in den Tod gerissen und mehr als 50 schwer verletzt. An diesem Beispiel verdeutlicht sich sehr stark der gezielte Vernichtungswille von dem die russische Neonazi-Bewegung zur Zeit getragen wird. Die Reaktion der Regierenden auf die zunehmende Gewalt ist mehr als fragwürdig. Statt auf eine stärkere Unterstützung der Betroffenen zu pochen, wird eine »Entfernung« der potentiellen Opfer forciert. So gilt in Moskau bereits seid einigen Jahren die Regelung, dass ausländische Studierende am 20. April – Hitlers Geburtstag – ihre Wohnheime nicht verlassen dürfen. In den letzten Jahren wurden zunehmend auch Antifas Opfer rechtsextremer Gewalt. Angriffe und Morde am politischen Gegener sowie Angehörigen alternativer Subkulturen nehmen beständig zu. Diese Taten sind es, welche das Problem des russischen Rechtsextremismus in jüngerer Zeit stärker in den Fokus der internationalen Öffentlichkeit rücken und antifaschistische Protestbewegungen auf den Plan rufen. Timur Kacharava zählt zu den ersten Ermordeten. Am 13. November 2005 wurde der Antifaschist und Gitarrist der Hardcore-Band »Sandinista!« auf dem Nachhauseweg von einer Gruppe Neonazis überfallen und erstochen. Seinen Angreifern war sein politisches Engagement bekannt - sie lauerten Timur gezielt auf. Nur eine breite Solidaritätsbewegung und die Ausdauer der Familie Kacherava, welche beständig Druck auf Miliz und Justiz ausübte, ermöglichten es, dass Timurs Mörder schließlich vor Gericht gestellt wurden. Organisierte Neonazis nehmen auch zunehmend Konzerte von als »links« geltenden Bands zum Anlass, Jagd auf Antifas und Alternative zu machen. So wurden in Moskau Alexandr Rjuchin am 16. April 2006 auf dem Weg zu einem Hardcore-Konzert und Aleksey Krylov am 16. März 2008 auf dem Weg zu einem Punk-Konzert von Rechtsextremen ermordet. Bei Angriffen dieser Art ist es den Neonazis völlig egal, ob es sich bei ihren Opfern um politische Gegner in Gestalt erklärter antifaschistischer Aktivisten oder um alternativen Subkulturen zugehörige Jugendliche handelt. . Vor allem bei den Angriffen auf Antifas handelt es sich in den meisten Fällen nicht um spontane Aktionen von Einzelpersonen oder zufällig zusammengewürfelten Banden, meist sind es Neonazis aus organisierten Strukturen, welche untereinander vernetzt und im Kampf ausgebildet sind. Auch gezielte Attentate gegen bekannte Gegerinnen und Gegner des Rechtsextremismus sind Teil der rechten Strategie. So wurde der Menschenrechtsaktivist und Ethnologe Nikolai Mikhailovich Girenko am 19. Juni 2004 durch seine Wohnungstür hindurch mit einem Gewehr erschossen.

Vorgehen der Justiz
Einer der wenigen Fälle, der medial auf internationaler Ebene Aufsehen erregte, war der Mord an dem neunjährigen tadschikischen Mädchen Churshede Sultonova. Sie wurde 2005 durch eine Gruppe Nazi-Skins auf dem Nachhauseweg mit elf Messerstichen ermordet. Auch hier wurden die Täter wegen »Hooliganismus« verurteilt, da eine Mordabsicht nicht offensichtlich vorgelegen hätte. Anklagen wegen »Hooliganismus« ziehen in den meisten Fällen nur geringe Haftstrafen oder sogar Freisprüche nach sich. »Hooliganismus« ist gleichbedeutend zu bewerten mit Sachbeschädigung oder etwa »Rüpelhaftigkeit«. 2006 wurde in einer Anklageschrift erstmals Xenophobie (Fremdenfeindlichkeit) als Tatgrund angegeben. Dies ist allerdings nur als äußerst geringer Erfolg zu betrachten, wenn man bedenkt, dass es im Jahr 2007 bei 653 rechten Gewalttaten nur zu 24 Verurteilungen kam.

Reaktionäres Gesellschaftsklima
In der Praxis der Justiz spiegelt sich sehr bildlich das kaum vorhandene Problembewusstsein für Rechtsextremismus in der russischen Gesellschaft wieder. Dies verwundert nicht, in Anbetracht der Tatsache, dass ein Großteil der Öffentlichkeit von zaristischem und nationalistischem Denken durchtränkt ist. Laut Umfrageergebnissen diesen Jahres sind 40 Prozent der Befragten davon überzeugt, dass »nationale Minderheiten« zu großen Einfluss im Land ausüben. 56 Prozent würden der Parole »Russland den Russen« zustimmen. Wer aber sind die Russen? Russland war schon immer multiethnisch. Würde die Forderung nach einem »rassenreinen, weißen Russland« tatsächlich in die Tat umgesetzt werden, würde Russlands derzeitige Population auf rund ein Drittel der Bevölkerung zusammenschrumpfen. Ein weiteres Beispiel für diese Zustände ist der »Brief der 500«, der am 13. Januar 2005 veröffentlicht wurde und von einer Reihe Dumaabgeordneter unterzeichnet wurde. Die Petition fordert u.a. das Verbot jüdischer Organisationen. Diese Positionen sind komplett anschlussfähig für die organisierte Rechte, was ihr gerade in den letzten Jahren einen regen Zulauf verschaffte. Mittlerweile existieren über 300 rechtsextreme Gruppierungen. Sie haben Verbindungen zur militanten rechten Skinheadszene, welcher zwischen ca. 70.000 Personen angehören.

Aktiv werden
Klar wird, dass die Menschen, welche sich in Russland für eine menschenwürdigere Gesellschaft engagieren, dies unter den widrigsten Umständen tun zu müssen. Der Druck, unter dem die antifaschistische Bewegung in Russland gerade steht, erschwert es ihnen massiv, die Menschen zu unterstützen, die von rassistischer Gewalt betroffen sind.

Ein Text der North-East Antifascists (NEA)